Karin Müller ist seit vielen Jahren Hebamme und dies mit Leib und Seele. Sie ist im Hebammenzentrum, dem Verein freier Hebammen, in Wien tätig und verfügt über einen enormen Erfahrungsschatz, den sie im folgenden Interview mit unserer Community teilt.
Liebe Karin, bitte stelle dich kurz vor und erzähle, was dich an der Hebammenarbeit so begeistert.
Ich arbeite seit 12 Jahren im Hebammenzentrum – Verein freier Hebammen, wo ich Familien vor und während der gesamten Schwangerschaft sowie im ganzen ersten Lebensjahr (oft auch darüber hinaus) berate, begleite und unterstütze. Viele Angebote sind für die Familien dabei kostenlos (Familienberatungsstelle).
Mich begeistert die Individualität jeder Frau und jeder Familie, denn die Frauen und Familien befinden sich in einer Lebensphase, die mit ganz viel Unsicherheit einhergeht (durch den Nachwuchs wird das Leben grundlegend auf den Kopf gestellt). Meine Aufgabe ist es, diese Menschen zu bestärken und bei wichtigen Entscheidungen zu unterstützen, sodass sie wieder in ihre Kraft finden.
Ich finde es toll, dass wir im Hebammenzentrum viel Zeit haben für die einzelnen Menschen, die zu uns kommen und dass wir auch präventiv arbeiten dürfen. Eltern und Kinder, explizit auch die Väter, beim Start ins gemeinsame Leben zu unterstützen, sehe ich als wesentliche feministische und politische Aufgabe!
Ernährung in der Schwangerschaft ist für werdende Mütter sicherlich ein heißes Thema. Welche Tipps kannst du deinen Klientinnen auf den Weg mitgeben? Welche Nährstoffe sind besonders wichtig?
Frauen, die von selbst zu uns finden und Beratung wünschen, sind meist jene, denen die Bedeutung von gesunder Ernährung sehr bewusst ist. Jene Frauen, die mit dem alten Mythos „in der Schwangerschaft darf ich für Zwei essen“ durch die Schwangerschaft gehen, sind oft für Beratung schwerer zugänglich.
Der durchschnittliche Energiemehrbedarf einer Schwangeren entspricht nur einer kleinen Zwischenmahlzeit. Sehr wohl erhöht sich der Bedarf an einigen Vitaminen und Mineralstoffen, dieser kann am besten durch Lebensmittel mit sogenannter hoher Nährstoffdichte abgedeckt werden, also Lebensmittel, die nicht in erster Linie Energie (Fett, Zucker) enthalten, sondern reich an Vitaminen und Mineralstoffen sind (Obst, Gemüse, Vollkornprodukte…).
Nun zu den Nährstoffen im Detail:
- Ernährungsexperten weisen besonders auf die Bedeutung von Omega-3-Fettsäuren in der Schwangerschaft hin, welche in Pflanzenölen (Raps, Sonnenblume, Maiskeimöl) oder in fettreichen Fischen (Makrele, Hering, Lachs) sowie in Fischölen enthalten sind.
- Die Wichtigkeit von Folsäure ist vielen Schwangeren bekannt (z.B. enthalten in Kohlgemüse, Spinat, Salat). Generell ist eine Supplementierung mit Folsäure bereits ab Kinderwunsch empfohlen.
- Auch der Jodbedarf steigt in der Schwangerschaft. Jod findet sich in jodiertem Speisesalz sowie in verschiedenen Fischsorten und Eiern als auch in Milchprodukten. Menschen, die diese Lebensmittel nicht regelmäßig essen, benötigen eine Supplementierung.
- Auch Eisen ist in der Schwangerschaft in aller Munde, es ist ein Baustein des roten Blutfarbstoffes und damit wichtig für die Sauerstoffversorgung von Mutter und Kind. Auch hier steigt der Bedarf in der Schwangerschaft, am stärksten im dritten Trimenon, und ein Eisenmangel ist weit verbreitet, vor allem bei Frauen mit sehr starken Menstruationsblutungen vor der Schwangerschaft, mehreren Geburten knapp hintereinander, unausgewogener Ernährung etc.
Eisen sollte jedoch nur bei nachgewiesenem Mangel supplementiert werden, nicht nach dem Gießkannenprinzip für alle Schwangeren. Die richtige Produktwahl ist hier maßgeblich, um klassische Nebenwirkungen einer Eisengabe wie Verstopfung und Übelkeit zu vermeiden, denn aufgrund ihres Aufbaus sind manche Präparate deutlich besser verträglich als andere. Grundsätzlich ist Eisen aus Fleisch gut für den Körper verwertbar, die Bioverfügbarkeit von Eisen aus pflanzlichen Lebensmitteln (bestimmte Getreide wie Hafer, Hirse, Amaranth, Hülsenfrüchte etc.) lässt sich etwa durch die Kombination mit Vitamin-C-haltigen Lebensmitteln verbessern.
- Der Mehrbedarf an Kalzium – wichtig für den Knochenaufbau – lässt sich durch die Ernährung gut abdecken. Ich empfehle Milchprodukte, kalziumreiches Mineralwasser etc.
- Zuletzt noch ein paar Worte zum ebenfalls allgegenwärtigen Thema Magnesium. Es spielt unter anderem eine wichtige Rolle bei der Muskelkontraktion, ein erstes und weit verbreitetes Symptom eines Mangels sind Wadenkrämpfe. Grundsätzlich lässt sich auch Magnesium gut durch die Nahrung zuführen, z.B. in Form von Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Nüssen und magnesiumreichem Mineralwasser. Magnesiumpräparate sind üblicherweise gut verträglich, eine häufige, in der Schwangerschaft aber oft auch gewünschte Nebenwirkung ist weicherer Stuhl.
Mein Ansatz in der Beratung geht oft darüber hinaus, denn viele Frauen wissen sehr gut über Do`s und Don`ts der Ernährung in der Schwangerschaft Bescheid. Ich möchte sie ermuntern, auch ihre Gelüste zu beachten, die gerade in der Schwangerschaft oft sehr gut den Bedarf von Mutter und Kind anzeigen.
Spannend finde ich, dass ein Mangel an bestimmten Nährstoffen sich zuallererst bei der Mutter auswirkt. Die Natur hat dafür gesorgt, dass das ungeborene Kind lange weiter mit allem versorgt wird, zulasten der Reserven der Mutter.
Dies gilt übrigens auch für die Stillzeit: Weltweit haben stillende Frauen die verschiedensten Ernährungsgewohnheiten, aber die Zusammensetzung der Muttermilch ist dennoch nahezu ident. Nur der Gehalt an manchen Vitaminen und die Zusammensetzung an langkettigen Fettsäuren lässt sich durch die Ernährung beeinflussen. Damit wird die optimale Versorgung der Säuglinge sichergestellt!
Weil wir gerade auf das Thema Stillen gekommen sind – warum ist Stillen so wichtig? Was empfiehlst du Frauen, die nicht in der Lage sind zu stillen? Ab wann ist Beikost empfehlenswert und was gilt es dabei zu beachten?
Zu diesem Thema könnte ich endlos lange sprechen, aber nur so viel:
Stillen bietet in vielerlei Hinsicht Vorteile:
Gesundheitliche Vorteile für das Baby sind vielen bekannt und in unzähligen Studien nachgewiesen. Stillen stärkt das Immunsystems, reduziert den Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen, z.B. Magen-Darm-Erkrankungen, Mittelohrentzündungen, Allergien…etc.
Durch das Stillen halbiert sich zudem das SIDS-Risiko (Sudden Infants Death Syndrome/ plötzlicher Kindstod).
Langfristig gesehen reduziert sich das Risiko von Diabetes und Übergewicht, sogar ein höherer IQ wird mit dem Stillen in Verbindung gebracht!
Unabhängig davon profitieren speziell Frühgeborene und kranke Kinder besonders von den gesundheitlichen Vorteilen des Stillens.
Es gibt aber auch gesundheitliche Vorteile für die Mutter! Das Risiko für Brustkrebs, Eierstockkrebs, Gebärmutterhalskrebs sinkt, genauso die Wahrscheinlichkeit an einer Osteoporose zu erkranken. Auch reduziert sich das Risiko für Bluthochdruck und einer Diabetes Typ II Erkrankung.
Vorteile des Stillen im Alltag:
Stillen ist praktisch, die Nahrung ist immer richtig zusammengesetzt, richtig temperiert und hygienisch. Auch den finanziellen Aspekt sollte man nicht außer Acht lassen.
In Zeiten der Klimakrise ist auch der ökologische Aspekt wichtig: keine Verpackungen, keine Produktions- und Transportkosten etc.
Auch volkswirtschaftlich sind folglich enorme Einsparungen durch weniger Krankheitsfälle und auch weniger Pflegeurlaubstage durch das Stillen nachgewiesen. Zahlreiche Studien belegen diesen positiven ökonomischen Effekt.
Das Wichtigste zuletzt: Stillen stillt alle Bedürfnisse des Babys gleichzeitig: Nahrung, Nähe, Körperkontakt, Berührung, Kuscheln, Saugbedürfnis, Emotionsregulation…
Mütter, die nicht stillen können, verdienen uneingeschränkte Unterstützung und Bestärkung in ihrer Rolle als Mutter. Ein wertvoller Anfang kann sein, dem Baby in den ersten Tagen ein paar Tropfen Kolostrum zu geben, das durch seine immunstärkenden Eigenschaften einen positiven Start ermöglicht. Nähe und Körperkontakt sind entscheidend für die Bindung – insbesondere Hautkontakt ohne störende Kleidungsschichten hilft, eine tiefe Verbindung zu schaffen. Auch beim Füttern mit der Flasche gibt es wichtige Aspekte zu beachten: Eltern sollten das Baby liebevoll im Arm halten, mit Augenkontakt füttern und das Kind nicht zum vollständigen Leeren der Flasche drängen. Ein Wechsel der Seiten beim Fläschchengeben, ähnlich wie beim Stillen, kann unterstützend wirken. Zudem benötigen auch nicht stillende Mütter eine gute Beratung, etwa zum Erkennen von Hunger- und Sättigungssignalen des Babys oder zur Auswahl geeigneter Babynahrung. Dadurch wird harmonische Entwicklung des Kindes gefördert – unabhängig davon, ob es gestillt wird oder nicht.
Ab wann Beikost?
Die WHO empfiehlt, Babys in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich zu stillen und danach Stillen mit geeigneter Beikost zu kombinieren. In Österreich wird Beikost jedoch oft schon ab dem vollendeten 4. Lebensmonat empfohlen – diese Empfehlung ist teilweise durch finanzielle Interessen beeinflusst. Entscheidend ist jedoch, auf die individuelle Beikostreife des Kindes zu achten. Zeichen dafür sind z. B., dass das Kind mit minimaler Unterstützung aufrecht sitzen kann, Nahrung nicht mehr reflexhaft mit der Zunge herausschiebt und in der Lage ist, Essen eigenständig mit den Händen in den Mund zu führen.
Bei der Einführung von Beikost ist es wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu wählen. Das Kind sollte weder völlig ausgehungert noch vollständig satt sein. Beikost ist mehr als reine Nahrungsaufnahme – sie bietet dem Kind die Möglichkeit, alle Sinne zu entdecken: neue Geschmäcker, verschiedene Texturen (Brot vs. Brei) und die Erfahrung, Lebensmittel mit den Händen zu erkunden. Gleichzeitig lernt es den Umgang mit Löffel, Becher und anderen Utensilien. Essen sollte stets ein soziales und freudvolles Erlebnis sein.
Ein zentraler Aspekt ist der Eisenbedarf. Dieser steigt aufgrund des schnellen Wachstums im ersten Lebensjahr stark an, insbesondere ab dem 5. Monat. Die Eisenreserven eines Babys hängen von vielen Faktoren ab, wie dem Eisenspiegel der Mutter in der Schwangerschaft, der Art der Geburt (z. B. Frühgeburt oder normaler Geburtszeitpunkt) und dem Geburtsgewicht. Während Muttermilch nur wenig Eisen enthält, ist dieses besonders gut verwertbar, besser als das Eisen in Kuhmilch oder Babynahrung. Ein gesundes, reifgeborenes Baby kann oft bis zu 8–12 Monate von seinen Eisenspeichern zehren. Dennoch sollte ab der Beikostreife auf eisenreiche Nahrung mit guter Bioverfügbarkeit geachtet werden, z. B. Fleisch, Hülsenfrüchte oder eisenangereicherte Lebensmittel.
Hinsichtlich der Einführung von potenziellen Allergenen gibt es – derzeit – folgende Empfehlungen: Alle Lebensmittel, einschließlich solcher, die allergieauslösend sein könnten, sollten zugeführt werden – idealerweise, während die Mutter noch stillt. Eine verzögerte Einführung trägt nicht zur Prävention allergischer Erkrankungen bei. Moderne Erkenntnisse betonen die Bedeutung einer breiten Vielfalt in der Ernährung, um das Immunsystem optimal zu fördern.
Viele Mütter sind besorgt, wenn Blähungen im Säuglingsalter auftreten. Was sind die Gründe hierfür. Welche Maßnahmen kannst du den frisch gebackenen Müttern empfehlen?
Blähungen, Bauchweh, abendliche Schreiphasen und Unruhe sind in den ersten drei Lebensmonaten eines Babys keine Seltenheit. Diese Zeit ist geprägt von einer enormen Anpassungsleistung: Der Darm besiedelt sich mit einem neuen Mikrobiom, die Verdauung von Muttermilch ist eine völlig neue Erfahrung. Zusätzlich ist das Neugeborene mit einer Vielzahl neuer Eindrücke konfrontiert und muss diese „verdauen“– es erlebt Kälte, Helligkeit, Geräusche, Berührungen, die Wirkung der Schwerkraft und muss selbst atmen, seinen Blutzuckerspiegel regulieren und seine Körpertemperatur halten. Diese Überforderung kann sich nicht nur in Unruhe, sondern auch in Bauchschmerzen äußern – eine Parallele zu Kindern im Kindergartenalter, die z. B. bei emotionalem Stress ebenfalls über Bauchweh klagen.
Oft wird die Ernährung der Mutter als Ursache hinterfragt, doch wissenschaftlich ist klar: Blähende Stoffe gehen nicht in die Muttermilch über! Hierbei muss ich immer an die Aussage einer Ernährungsberaterin denken, die gemeint hat, sie hat noch nie abgepumpte Muttermilch gesehen, die gesprudelt hätte. Gestillte Babys haben sogar seltener Blähungen als flaschengefütterte. Stillende Mütter können – abgesehen von Alkohol – alles essen, auch frisches Brot, Kohlgemüse, Hülsenfrüchte (wichtiger Eiweiß- und Eisenlieferant), Milchprodukte (wichtige Calciumquelle), Zwiebeln oder Knoblauch, Gewürze, denn eine abwechslungsreiche, nährstoffreiche Ernährung ist in der Stillzeit ebenso essenziell wie in der Schwangerschaft.
Ein weiter Mythos ist meiner Meinung nach, dass Vitamin D Tropfen, die das Baby von Anfang an bekommt, für die Blähungen verantwortlich sind. Aus meiner Erfahrung kann ich jedoch keinen Zusammenhang zwischen Blähungen und Vitamin D erkennen.
Was kann helfen bei Blähungen?
- Ruhe und Stressreduktion: Weniger Besucher, ein entspannter Alltag und Unterstützung aus dem Umfeld können viel bewirken.
- Vertraute Reize: Erfahrungen wie sanftes rhythmisches Schaukeln, Pucken oder das Tragen geben dem Baby Sicherheit, da sie an die Gebärmutter erinnern.
- Wärme und sanfte Berührung: Ein warmes Kirschkernkissen, Bauchmassagen mit speziellen Ölen oder „Radfahren“ mit den Beinchen können Bauchschmerzen lindern.
- Geduld und Gelassenheit: Eltern sollten versuchen, ruhig zu bleiben und nicht zu viele Maßnahmen gleichzeitig auszuprobieren. Oft dauert es, bis eine Methode wirkt.
Eltern, die mit einem unruhigen oder viel weinenden Baby konfrontiert sind, zweifeln schnell an sich selbst. Der Austausch mit anderen Eltern und eine professionelle Beratung können helfen, diesen Druck zu reduzieren. Es ist wichtig zu wissen: Sie machen nichts falsch, und diese Phase geht vorüber!
Liebe Karin, vielen Dank, dass du dir für dieses Interview Zeit genommen hast und du dein Expertenwissen weitergibst.